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Reden ist Silber, doch manchmal ist Schweigen Gold

Das besprochene Wasser

Hier eine sehr tolle Geschichte, die einen kreativen Umgang mit Streitsituationen veranschaulicht:

 

Einst lebten eine Frau und ein Mann, die waren noch nicht sehr lange verheiratet, aber auch nicht ganz kurz, sondern irgendwo dazwischen. Obwohl sie schon etliche Jahre zusammen waren, ging es zwischen ihnen zuweilen immer noch recht leidenschaftlich zu. Doch leider nicht nur nachts bei der Liebe, sondern auch tagsüber, beim Streit. Beide waren sie dann stur und zornig gleichermaßen. Dabei taten sie einander mit harten Worten so manches Leid an. 

Die Frau ging eines Tages an den Rand des Dorfes, dorthin wo das Kräuterweib lebte. Diese Frau besuchte keiner einfach so, zu der ging nur, wer in Not war und Hilfe suchte. Die Ehefrau klagte ihr Leid: "Mein Mann und ich, wir lieben uns von Herzen. Aber manchmal streiten wir und derart, dass er mich fast in den Wahnsinn treibt mit seiner Sturheit. Ich fürchte, dass eines Tages die Tür zwischen uns für immer zufällt. Wir sagen uns im Streit Dinge, die wir nicht so meinen, die wir aber nicht wieder zurücknehmen können." Die Kräuterfrau nickte. Sie wusste ja: ein einmal ausgesprochenes Wort ist wie ein Pfeil, der niemals zurückgerufen werden kann. Als die Besucherin ausgeredet hatte, schaute die Alte aus dem Fenster und dachte nach. Dann holte sie ein dickes altes Buch, fand darin eine ganz bestimmte Stelle, las, schüttelte den Kopf und seufzte. Sie stelle ein paar Fragen: wie oft und wie lange die beiden stritten und wie sie sich wieder versöhnten. Daraufhin holte sie ein anderes Buch. Dieses schlug sie auf gut Glück irgendwo auf, und las, was da geschrieben stand. Endlich nickte sie zufrieden. Entschlossen ging sie in ihre Kammer und kam bald darauf wieder mit einer gläsernen Flasche, verschlossen mit einem Korken. "Dies", so meinte sie, "ist besprochenes Wasser. Ich habe nicht mehr viel davon, doch für deine Zwecke wird es schon reichen. Es hat damit eine besondere Bewandtnis. Es ist sehr wirksam, doch nur, wenn es richtig angewendet wird. Also hör mir gut zu: Wenn der nächste Streit beginnt, musst du gleich anfangs einen Schluck von diesem Wasser in den Mund nehmen. Dann kommt das Schwierigste - du darfst es nämlich nicht hinunterschlucken und auch nicht ausspucken, sondern musst es im Mund behalten, solange du nur kannst. Erst wenn es nicht mehr geht, spuckst du es hinterm Haus, nicht vor dem Haus, unter einem Obstbaum aus." Dankbar legte die Frau viel Geld auf den Tisch. Weil die Alte eine ehrliche Haut war, gab sie die Hälfte davon zurück. Weil sie aber auch von etwas leben musste, steckte sie die andere Hälfte ein. Die Frau stellte die Flasche mit dem besprochenen Wasser zu Hause auf ein Brett an der Wand. Dann wartete sie auf den nächsten Streit. Doch es war wie verwunschen, gerade weil sie darauf wartete, verging ein Tag nach dem anderen in völligem Frieden. Erst eine Woche später begann der nächste Zank. Ihr Mann sagte etwas Verkehrtes und sie antwortete darauf ganz wütend, dann schoss er zurück und sie.. sie sah die Flasche an der Wand. Was sie sagen wollte, brannte ihr zwar auf der Zunge, doch sie ging wild entschlossen zu dem Brett an der Wand, nahm einen Schluck in den Mund und wartete. Ihr Mann hatte die Antwort auf das, was sie hätte sagen wollen, schon im Kopf. Nach so vielen Jahren weiß der eine ja meistens, was der andere in einem Streit als nächstes sagen wird. Nur, dass sie es nicht sagte. Das verwirrte ihn. Er schaute zu ihr hin. Sie erwiderte seinen Blick mit fest geschlossenen Lippen, denn mit dem Wasser im Mund konnte sie ja nicht sprechen. Was nun kam, ist ungewöhnlich in einem Streit - es war ganz still. Still genug, um nachzudenken. Weil keine Erwiderung kam, hallten die letzten zornigen Worte des Mannes nach. Mit einem Mal erschien es ihm, er habe es recht hart und schneidend ausgedrückt. Also sagte er es nochmals, doch ein wenig sanfter. Die Frau machte Augen und dachte sich: Das Wasser wirkt! So behielt sie es im Mund. Als er ihre Augen sah, fasste der Mann das, was er meinte, ein drittes Mal in Worte. Nun klang es schon gar nicht mehr böse. So ging es immer weiter, ihre Augen wurden größer, seine Worte sanfter, das Wasser wirkte! Am Ende kam es so weit, dass er gar über das nachdachte, was seine Frau gesagt hatte, bevor sie verstummt war. Schließlich gab er sogar zu, dass sie zwar nicht zur Gänze Recht hatte, meinte aber, sie habe auch nicht völlig Unrecht. Als sie endlich das Wasser hinter dem Haus ausspuckte, folgte ihr Mann auf dem Fuß. Unter den blühenden Zweigen saßen die beiden bald wie zwei Turteltauben beieinander. 

Einige Flaschen mussten sie schon noch holen vom Rand des Dorfes, doch ihre Ehe hielt ein gemeinsames Leben lang.